Erinnerung an Berthold und Margarethe Selig, geb. Hirsch
(Fotos sind nur zur privaten Verwendung freigegeben, © Marcus Beer)
Berthold und Margarethe Selig, geb. Hirsch
Grauelstraße 19
Über mehrere Generationen hatte die weit verzweigte Familie Selig in Hechtsheim gewohnt und ihren Lebensunterhalt als Frucht-, Getreide- und Viehhändler verdient. Simon Selig I., 1783 in Wiesenbronn bei Würzburg geboren und 1813 in Hechtsheim eingebürgert, war neben Benjamin Kapp einer der beiden ersten uns bekannten israelitischen Haushaltsvorstände im Dorf, dessen Kinder in den 1820er Jahren in die örtliche Volksschule
gingen. Er war Berthold Seligs Urgroßvater.
Berthold wurde am 18. Februar 1878 als ältestes von vier Kindern des Fruchthändlers Siegmund Selig und seiner Frau Regina, geborene Kahn, in Hechtsheim geboren. Der Vater, 1847 geboren, war Hechtsheimer; die Mutter, 1854 geboren, stammte aus Worfelden, heute Ortsteil von Büttelborn. Beide starben 1916 bzw. 1904 und ruhen auf dem jüdischen Friedhof Hechtsheim.
1904 heiratete Berthold Selig die ein Jahr jüngere Margarethe Hirsch, am 21. Januar 1879 in Büttelborn geboren. Das Ehepaar hatte zwei Kinder: die am 16. Oktober 1909 geborene Tochter Alice Regina und den am 6. November 1910 geborenen Sohn Lucian Jakob. Berthold Selig war Viehhändler von Beruf und wohnte mit seiner Familie in dem vom Vater übernommenen eigenen Haus in der Grauelstraße 19. In den 1920er Jahren gehörte er dem Vorstand der hiesigen jüdischen Gemeinde an. Die Seligs fühlten sich, wie viele Landjuden, dem orthodox-traditionellen Judentum verpflichtet, orientierten sich hinsichtlich der Ausbildung ihrer Kinder zugleich nach den besseren Möglichkeiten, die in der Stadt Mainz geboten wurden.
Die Tochter Alice besuchte nach ersten Schuljahren in Hechtsheim zunächst die von der Israelitischen Religionsgesellschaft, der strenggläubigen Gruppierung unter dem Dach der Mainzer jüdischen Gemeinde in Mainz betriebene Bondischule, so benannt nach dem orthodoxen Rabbiner Dr. Jonas Markus Bondi, der die Schule lange leitete. Von 1921 bis 1924 war sie Schülerin der Mainzer Höheren Mädchenschule – heute Frauenlob-Gymnasium. Im Juni 1934 heiratete sie in ihrer Heimatgemeinde den aus dem rheinhessischen Fürfeld (heute Verbandsgemeinde Bad Kreuznach) stammenden Karl Kahn. Beide konnten bald danach in die USA auswandern, wo ihr Sohn Erwin 1935 zur Welt kam. Alice Kahn, geborene Selig, starb 1950 im Alter von nur 40 Jahren in New York.
Der Sohn Lucian, ebenfalls zuerst in Hechtsheim eingeschult und anschließend nach Mainz gewechselt, hatte nach dem Schulbesuch eine kaufmännische Ausbildung in Mainz gemacht und war dort in der weit über Deutschland hinaus bekannten Sektkellerei Schönberger Cabinet A.G. in der Walpodenstraße, die 1938 „arisiert“ wurde, bis zu seiner Auswanderung tätig. 1934 hatte man ihm die Ausstellung eines Reisepasses verweigert mit der vorgeschobenen Begründung, er werde im Ausland abträgliche Propaganda gegen das nationalsozialistische Deutschland betreiben. Hintergrund war, dass Steinwürfe gegen die Fenster und Läden des elterlichen Hauses kurz zuvor einen Schaden angerichtet hatten. Im März 1938 gelang ihm schließlich doch die Auswanderung in die USA, wo er 1961 starb.
Seit Beginn der NS-Herrschaft wurde Berthold Selig mit seiner Familie zunehmend ausgegrenzt. Geschäfte mit jüdischen Viehhändlern und deren Teilnahme an Viehmärkten wurden sukzessive unterbunden. Nicht nur die Steinwürfe gegen sein Haus schon 1933 setzten ihm zu. In einem Pamphlet mit der Überschrift „Das ist der Jude!“ kam es im Dorf auch zu der öffentlichen Anschuldigung, Berthold Selig habe Milch mit einem zu geringen Fettgehalt verkauft. Wie allen Juden wurde auch ihm die Ausübung seines Berufs verboten und er sah sich gezwungen, einen Großteil seines Grundbesitzes unter Wert zu verkaufen. In der Pogromnacht des 9./10. November 1938 wurde sein Haus mit allem Hausrat weitgehend demoliert.
Berthold Selig und seine Frau Margarethe sahen sich daher Anfang Januar 1939 zum Umzug nach Mainz gezwungen, weil nach der Zerstörung ihres Hauses ein Leben im Dorf unmöglich geworden war. Sie lebten dort in der Adam-Karrillon-Straße 54, einem der zahlreichen, bald danach zu „Judenhäusern“ deklarierten Gebäude, in denen die Nazis viele jüdische Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen auf engstem Raum zusammendrängten, um sie besser kontrollieren und schließlich deportieren zu können. Das Ehepaar Selig bewohnte ein Zimmer, die Küche mussten sie mit zwei weiteren Ehepaaren teilen.
Am 25. März 1942 wurden Berthold und Margarethe Selig von Mainz über Darmstadt in einem Transport mit 1.000 Menschen aus dem Gebiet des früheren Volksstaats Hessen, davon 466 aus Mainz, in das Ghetto Piaski/Kreis Lublin deportiert und kurze Zeit später, wahrscheinlich in Sobibór, ermordet. Die Eheleute Selig waren damals 64 bzw. 63 Jahre alt.
Quelle: Verein Hechtsheimer Ortsgeschichte, Bearb. Frau Renate Knigge-Tesche.
Bilder: © Marcus Beer
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Ich bin das Seitenende und soll den Balken unter mir festhalten.